Der Architekt muß damit leben, daß sich das Schicksal eines Hauses seinem Zugriff entzieht. Das Haus ist fertig, der Schlüssel übergeben. Später folgen Veränderungen der Gestalt, Veränderungen der Nutzung. Der Planer mag diesen Prozeß noch eine Weile beobachten, auch wenn er selbst das Projekt längst verabschiedet hat. Ablösung auf beiden Seiten.
Bei diesem Haus gibt es einen Konzentrationspunkt, in dem sich die Geschichtslinien schneiden: Das ist der Umbau aus der Hand Kramms. Er funkelt eigentümlich genug, und doch tritt er zurück hinter die Historien des Davor und des Danach. Ende der zwanziger Jahre wurde die großbürgerliche Villa für den jüdischen Rechtsanwalt Dr. Mainzer gebaut. Auf winkelförmigen Grundriß besetzt sie die Straßenecke in einem repräsentativen, Heimat- und Nachjugendstil entwachsenen Wohnviertel. Die Schauseite öffnete sich, konkav geschwungen, mit zwei kubischen Erkern dem Garten. Spätex pressionistische Akzente heben sich ab von einer schmucklosen Fassade mit hart eingeschnittenen Wandöffnungen. Das verlieh dem Haus eine für das Quartier ungewohnte Radikalität. Der Hausherr rettete sich nach England; sein Eigentum wurde von Bomben beschädigt. Nach dem Krieg gelangte es, notdürftig hergerichtet, in den Besitz der Jüdischen Gemeinde Darmstadts, der es als Synagoge diente und als Rettungsinsel für Displaced Persons. Als die Stadt 1988 eine neue Synagoge errichtete, wurde die Jüdische Gemeinde gezwungen, das Haus »als Eigenleistung« samt wertvollem Grundstück der Kommune zu übertragen. Die verkaufte es dem damals noch angesehenen Investor Dr. Jürgen Schneider -- mit der Auflage,  es müsse einer gemeinnützigen Verwendung zugeführt werden. So etablierte sich dort eine Stiftung, die begabte Nachwuchswissenschaftler förderte. Schneiders Zusammenbruch riß auch die Stiftung in den Abgrund; die Stadt verzichtete -- angesichts des gestiegenenen Vermögenswertes -- auf ihr Rückkaufsrecht, und so dient das Haus, der Öffentlichkeit unzugänglich, heute einer großen Werbeagentur als Firmensitz.
Diese Geschichte färbt sich um so trauriger, betrachtet man den architektonischen Aufwand, den Kramm bei seinem Umbau der Villa angedeihen ließ. Schneiders Budget war denkbar großzügig. Es erlaubte, den Korpus in seinen Umrissen zu rekonstruieren -- mit subtilen Variationen. So springt aus dem Dach wieder eine Loggia vor, deren konvex gebogener Rand nun sanft der Fassadenkurve widerspricht. Das zwischenzeitlich um ein ganzes Geschoß aufgeschüttete Terrain blieb freilich unangetastet; darunter leiden die Proportionen. Kramms Bemü hungen wendeten sich wesentlich nach innen; ungeachtet ihrer ambivalenten Bestimmung sind so wieder großbürgerliche Salons entstanden. Die Öffnung der Räume zueinander, ihre Verbindung untereinander sind von hoher Raffinesse. Lichtführung, Wegeführung, Gestaltung von Treppen -- sie zählen zu Kramms schönsten Einfällen. Zu spüren ist der Freiraum, mit Form und Material zu experimentieren, den der Entwerfer hier genossen hat. Paradoxerweise förderte dieser Luxus die Einfachheit der Erfindungen.
Die Ambivalenz tritt außen zutage -- gewollt oder ungewollt als historischer Reflex. Das Haus wirkt seltsam hermetisch, ja abweisend. Den Eindruck vermittelt ein verstörendes Verhältnis von Wand und Fenster; der geringe Dachüberstand, hohe Umfassungsmauern und die herrschaftliche Eingangssituation unterstreichen diese Geste der Einschüchterung. Im Typus der Villa kreuzen sich ja zwei Bestrebungen: die durchaus stolze Vorführung wohlhabender Lebensumstände wie die strenge Abwehr eines die Intimität verletzenden Einblicks. Kramm hat diese Beziehung getreulich bewahrt -- statt, wie bei seinen eigenen Bauten, eine Auflösung zugunsten einer dem sozialen Gewissen verpflichteten Offenheit Der Ort prägt die Architektur